Antrag - 04/SVV/0975

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Beschlussvorschlag

Die Stadtverordnetenversammlung möge beschließen:

 

Die Stadtverordnetenversammlung der Landeshauptstadt Potsdam hat sich auf ihrer Sitzung am 2. Februar 2005 ausführlich mit dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt befasst.

 

Der Richtlinienentwurf ist äußerst unausgewogen und verletzt in erheblicher Weise das im Vertrag über die Europäische Union verankerte Subsidiaritätsprinzip:

 

-          Er unterwirft wesentliche Leistungen der Daseinsvorsorge (Wasserwirtschaft, Abfallwirtschaft usw.), soziale Dienste und durch die Sozialversicherungen geregelte Dienstleistungen (Gesundheitsdienste, Pflege) einer allgemeinen Liberalisierung und greift damit tief in die Kompetenzen der Mitgliedstaaten, ihrer regionalen Untergliederungen und Kommunen ein, diese Leistungen in eigener Verantwortung zu regeln.

 

-          Er schafft mit der breiten Verankerung des Herkunftslandprinzips ungleiche Wettbewerbsbedingungen für Dienstleistungen im europäischen Binnenmarkt, durchlöchert das einheitliche Recht der Mitgliedstaaten und organisiert so einen Wettlauf der mitgliedstaatlichen Rechtssysteme um niedrige Qualitäts-, Arbeits-, Sozial-, Verbraucherschutz- und Umweltstandards.

 

-          Er verzichtet auf eine sozialpolitische Regulierung des Dienstleistungsbinnenmarktes und macht eine effektive Kontrolle der Einhaltung des geltenden deutschen und EU-Rechts zur Arbeitnehmerentsendung unmöglich.

 

-          Er erschwert eine effektive Wirtschafts- und Unternehmensaufsicht und bietet unzureichende Vorkehrungen zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität.

 

Die Stadtverordnetenversammlung der Landeshauptstadt Potsdam unterstützt die Stellungnahme der kommunalen Spitzenverbände zu diesem Richtlinienvorschlag.

Der Oberbürgermeister wird beauftragt, diese Haltung in geeigneter Weise öffentlich zu machen.

 

 

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Erläuterung

Begründung:

Nach Angaben der Europäischen Kommission würde ihr Vorschlag einer Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt etwa 50 Prozent der Wirtschaftstätigkeit in der Europäischen Union betreffen. Dies unterstreicht die hohe Bedeutung dieses Vorhabens. Das erklärte Ziel des Richtlinienvorschlags ist die Schaffung eines EU-Binnenmarkts für Dienstleistungen bis 2010. Sein programmatische Titel lautet: „Abbau der bürokratischen Hindernisse für die Wettbewerbsfähigkeit Europas“. Der Kommissionsvorschlag ist als horizontale Rahmenrichtlinie konzipiert, die – von einigen Ausnahmen abgesehen – den gesamten Dienstleistungssektor erfasst. Die Dienstleistungsbereiche werden somit nicht sektoral nach ihren jeweiligen Sparten und deren Besonderheiten geregelt.

 

1. Keine EU-weit einheitlichen und gleichen Wettbewerbsbedingungen

 

Die Schaffung eines einheitlichen EU-Binnenmarkts für Dienstleistungen kann ein sinnvolles Ziel zur Fortentwicklung der Europäischen Union sein. Ebenso sinnvoll ist es, dass marktförmig und privatwirtschaftlich erbrachte Dienstleistungen dem Wettbewerbsprinzip unterworfen werden, um im Verbraucherinteresse einen adäquaten Leistungs- und Qualitätswettbewerb zu fördern.

 

Erstens muss ein einheitlicher EU-Dienstleistungsbinnenmarkt für marktförmig und privatwirtschaftlich erbrachte Dienstleistungen jedoch auf dem Prinzip eines fairen Wettbewerbs fußen. Faire Wettbewerbsbedingungen erfordern, einen hinreichend breiten Kernbestand an einheitlichen EU-Regelungen festzulegen, die für alle Wettbewerber gleichermaßen gelten: Ein „gleichmäßiges Spielfeld“ (Level Playing Field) mit gleichen Regeln für alle. In der Tradition des europäischen Sozialmodells und gemäß den Zielbestimmungen des geltenden Vertrags von Nizza ist die EU gefordert, die Bedingungen für einen fairen Wettbewerb insbesondere an den Zielen einer hohen Qualität und Sicherheit der Dienstleistungen, einem hohen Niveau des Verbraucherschutzes und des Gesundheitsschutzes, eines hohen Niveaus des Umweltschutzes und der Umweltqualität, eines hohen Niveaus des sozialen Schutzes und der Gleichstellung von Frauen und Männern zu orientieren. Diese Anforderung erfüllt der vorliegende Richtlinienentwurf nicht.

 

Zur Gewährleistung des freien grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs sieht der vorliegende Richtlinienentwurf die Verankerung des Herkunftslandsprinzips vor. Nach dem Herkunftslandprinzip unterliegt „der Dienstleistungserbringer einzig den Rechtsvorschriften des Landes (...), in dem er niedergelassen ist.“ Demnach dürfen „die Mitgliedstaaten die Erbringung von Dienstleistungen durch in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassene Dienstleistungserbringer nicht beschränken“. Dieses Prinzip wird durch generelle Ausnahmeregelungen, Übergangsregelungen und spezielle Ausnahmen für Einzelfälle ergänzt.

 

Der Deutsche Bundesrat stellt dazu mit Recht fest: „Die Regelung geht weit über das vom europäischen Vertragsrecht Geforderte hinaus, indem sie ‑ abgesehen von den in Artikel 17 aufgezählten Ausnahmen - eine vollständige Akzeptanz der vom Herkunftsstaat an die Dienstleistungserbringung gestellten Anforderungen dem Grunde nach verlangt. Folge hiervon wäre, dass im jeweiligen Mitgliedstaat kein einheitliches Recht gelten würde, was das rechtsstaatliche Prinzip der Rechtssicherheit beeinträchtigt. Das Recht wäre von Person zu Person, je nach Herkunft, verschieden, was die Rechtsanwendung erschwert.  (...) Das Fehlen europarechtlicher Harmonisierungsregelungen kann nicht dadurch umgangen werden, dass die Mitgliedstaaten zur unbedingten Anerkennung fremder Rechtsordnungen verpflichtet werden. Es erscheint zudem zweifelhaft, ob die von der Kommission vorgesehenen Regelungen (Artikel 19, 34 bis 37) ausreichen, um die Kontrolle aus dem Herkunftsland wirksam durchzuführen.“

 

Im Klartext: Mit dem Herkunftslandprinzip würde eben kein gleicher und einheitlicher EU-Regulierungsrahmen für die Dienstleistungserbringer geschaffen, sonder im Gegenteil ein radikaler Wettbewerb der mitgliedstaatlichen Rechtssysteme eingeleitet. In jedem einzelnen Mitgliedstaat würden künftig bis zu 25 verschiedene Unternehmens-, Sozial- und Tarifrechtsysteme etc. neben- und miteinander konkurrieren. Im Vorteil wären Dienstleistungserbringer aus jenen Mitgliedstaaten, welche die jeweils niedrigsten Standards in Bezug auf die Kontrolle der Unternehmertätigkeit, die Qualifikationsanforderungen, die Qualität und Qualitätskontrolle, die Besteuerung und die Sozial- und Beschäftigungsbedingungen, den Umwelt- und Verbraucherschutz bieten. Im Ergebnis würden durch die Richtlinie ungleiche Wettbewerbsbedingungen innerhalb der EU geschaffen, die in einen radikalen Unterbietungs- und Dumpingwettlauf münden könnten, wobei ein hohes Leistungs- und Qualitätsniveau auf der Strecke blieben. Eine solche Entwicklung dient auch sicher nicht dem erklärten Ziel der Kommission, die „Wettbewerbsfähigkeit Europas“ zu verbessern.

 

Die geplante Dienstleistungsrichtlinie soll unter anderem auch die Tätigkeit von Sachverständigen, Untersuchungs- und Messstellen etc. betreffen, deren Tätigkeit im Vorfeld oder im engen Zusammenhang mit umweltrechtlichen Genehmigungs- und Überwachungsverfahren steht. Im Abfallbereich gilt Entsprechendes bezüglich der Dienstleistungen von Sachverständigen, Abfallsammlungs- und ‑beförderungsbetrieben etc. Diese Tätigkeiten werden derzeit von den Mitgliedstaaten geregelt, welche auf national höhere Umweltstandards als die aus dem EU-Umweltrecht hervorgehenden Mindestanforderungen beruhen können. Die Anwendung des Herkunftslandsprinzips für grenzüberschreitende Dienstleistungstätigkeiten in diesem Bereich könnte zu einer Konkurrenz unterschiedlichen nationalstaatlichen Umweltrechts führen.

 

Verschärfend kommt hinzu, dass die Kommission zunächst die Regelungen zum Herkunftslandsprinzip durchsetzen möchte und erst in einem späteren Stadium „nach Bedarf“ in Sachen Verbraucherschutz usw. nachreguliert werden soll. Ein einheitlicher EU-Dienstleistungsbinnenmarkt muss hingegen von Anfang an ein sehr hohes Niveau an Verbraucherschutz gewährleisten, weil Kundenvertrauen sonst nicht entstehen kann.

 

Mit Bezug auf die Niederlassungsfreiheit von Dienstleistungserbringern (Artikel 14) sieht der Richtlinienentwurf das sofortige Verbot bestimmter mitgliedstaatlicher Auflagen vor (siehe Abschnitt 5 „Schwindende Kontrolle unternehmerischer Tätigkeit“). Andere Auflagen sollen wiederum auf ihre Verzichtbarkeit hin überprüft werden. So werden in Artikel 15 alle Regelungen zur Mindestkapitalausstattung, zur Rechtsform, zur Begrenzung der Zahl der Marktteilnehmer, für Mindest- oder Höchstpreise, Sonderverkäufe und Verkauf unter Einstandspreis unter Prüfungs- und Begründungszwang gestellt und geplante neue Vorschriften auf diesem Gebiet einer Vorzensur durch die Kommission unterworfen. Das kartellrechtliche Verbot von Verkäufen unter Einstandspreis ist zwingend erforderlich, um kleine und mittelständische Betriebe vor Verdrängungspraktiken großer Konkurrenten zu schützen. Eine Prüfung auf Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Regelung ist daher unangebracht und widerspricht der offiziellen Darstellung der Kommission, der Dienstleistungsbinnenmarkt werde den Wettbewerb fördern und vor allem kleinen und mittleren Unternehmen nützen. Mengenmäßige Beschränkungen betreffen regionale Höchstgrenzen bei der Zulassung von zahlreichen Gewerben – vom Taxiunternehmen bis zur Arztpraxis. Sie können dazu dienen, ein Überangebot in einzelnen Gebieten zu verhindern und damit den am Markt tätigen Dienstleistern überhaupt ein wirtschaftliches Überleben zu sichern. Umgekehrt wirken sie dadurch gegebenenfalls einer Unterversorgung in benachteiligten Gebieten entgegen. Sie sind ebenso mit einem einheitlichen Binnenmarkt vereinbar wie Honorarordnungen, Mindest- oder Höchstpreise oder Regelungen zur Mindestkapitalausstattung.

 

Die Richtlinie wird zu einem Zeitpunkt vorgeschlagen, da die Erweiterung um 10 neue Mitgliedstaaten auch das Funktionieren des Binnenmarktes auf eine Bewährungsprobe stellt. Obwohl klar ist, dass mit der Erweiterung das wirtschaftliche und soziale Gefälle in der EU drastisch zunimmt, schlägt man eine Strategie vor, die sich im Grunde von dem Ziel einer Anhebung gemeinsamer Standards im Dienstleistungsbereich verabschiedet. Mit einem solchen Projekt entfernt sich die Europäische Union immer weiter von den legitimen Bedürfnissen ihrer Einwohnerinnen und Einwohner.

 

2. Aushöhlung der öffentlichen Daseinsvorsorge

 

Zweitens ist es für die Tradition des europäischen Sozialmodells charakteristisch, dass zwischen öffentlichen und privatwirtschaftlichen Gütern unterschieden wird, was sich unter anderem in einer dualen Struktur von gemeinwohlorientierten Dienstleistungen im öffentlichen Interesse (öffentliche Daseinsvorsorge: öffentliche Dienste, Wohlfahrtspflege, gemeinnützigkeitsorientierte Non-Profit-Dienstleistungen usw.) und eines privatwirtschaftlichen Dienstleistungssektors widerspiegelt. Wo Leistungen der Daseinsvorsorge marktförmig erbracht werden, sind zudem Auflagen an die Leistungserbringer (z.B. Universaldienstverpflichtungen usw.) zur Gewährleistung von Gemeinwohlinteressen üblich und zweckdienlich.

 

Die vorgeschlagene Richtlinie verwischt die wohlbegründeten Grenzen und Unterschiede zwischen öffentlichen oder gemeinwohlorientierten und privatwirtschaftlichen Dienstleistungen. Unter dem Begriff Dienstleistung versteht die Richtlinie „alle selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeiten (...), die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, ohne dass die Dienstleistung von demjenigen bezahlt werden muss, dem sie zugute kommt. Entscheidendes Merkmal für das "Entgelt" ist, dass es eine wirtschaftliche Gegenleistung für die erbrachte Dienstleistung darstellt, unabhängig davon, wie diese wirtschaftliche Gegenleistung finanziert wird. Folglich ist eine Dienstleistung jegliche Leistung, mit der der Erbringer am Wirtschaftsleben teilnimmt, ungeachtet seines rechtlichen Status, des Tätigkeitszwecks und des betreffenden Tätigkeitsbereichs.“ Zwar behauptet der Entwurf ebenfalls: „Nicht unter die Richtlinie fallen dagegen nichtmarktbestimmte Tätigkeiten bzw. Tätigkeiten, bei denen das Merkmal der Entgeltlichkeit nicht gegeben ist, wie bei den Tätigkeiten, die der Staat ohne wirtschaftliche Gegenleistung in Erfüllung seiner sozialen, kulturellen, bildungspolitischen und rechtlichen Verpflichtungen ausübt.“ Damit fielen also hoheitliche Aufgaben des Staates (z.B. Militär, Polizei, Gefängnisse) nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie, ebenso wenig wie kostenloser öffentlicher Schulunterricht.

 

Unklar und unscharf bleibt jedoch die Abgrenzung zu anderen öffentlich regulierten oder gemeinwohlorientierten Dienstleistungen. Für die Inanspruchnahme zahlreicher öffentlicher Einrichtungen sind nun mal Entgelte oder Gebühren zu entrichten, seien dies der öffentlich-rechtliche Rundfunk, Verkehrsunternehmen, Bibliotheken, Freibäder, Ver- und Entsorger, Theater, Museen, Kindergärten, Volkshochschulen, Fachhochschulen, Universitäten, Krankenhäuser oder Friedhöfe. Gleiches gilt für die im öffentlichen Auftrag tätigen Institutionen, von den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege bis zum Technischen Überwachungsverein. Da ein Großteil ihrer Leistungen nach dem Entgeltkriterium als wirtschaftliche Tätigkeiten zu betrachten sind und der „nichtmarktbestimmte“ Charakter einzelner ihrer Tätigkeiten zunehmend von der Kommission in Zweifel gezogen wird, müssten sie nach dem Dienstleistungsbegriff der Richtlinie auch in deren Geltungsbereich fallen. Mit einiger Sicherheit ausgenommen wären nur jene Leistungen, die gänzlich ohne Entgelt erbracht werden (z.B. kostenlose Angebote von Vereinen, finanziert über Mitgliedsbeiträge oder Spenden). Die Kommission benennt zudem eine Reihe von Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge (Gesundheitswesen, Pflegedienste, Wasser- und Abwasserwirtschaft, Abfallwirtschaf usw.) als Beispiele, die – teils mit spezifischen Regelungen – in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen sollen.

 

Diese in der Richtlinie vorgeschlagene Definition des Dienstleistungsbegriffs und der Hinweis der Kommission, dass die dort enthaltene Aufzählung erfasster Dienstleistungstätigkeiten „nicht abschließend“ sei, schaffen ein Einfallstor für die Einbeziehung immer weiterer Tätigkeitsbereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge in den Geltungsbereich der Richtlinie. Der Deutsche Bundesrat kritisiert zu Recht diesen sehr weit gefassten Anwendungsbereich. Regelungen der Daseinsvorsorge - z.B. Gesundheitswesen, Pflege und soziale Dienste, Bildung, Wasserwirtschaft usw. - müssen grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten und ihrer zuständigen regionalen und kommunalen Untergliederungen bleiben.

 

 

3. Fehlende soziale Dimension des Dienstleistungsbinnenmarkts, Aushebelung der Entsenderichtlinie

 

Die bislang weitgehend abgeschlossene Schaffung eines europäischen Binnenmarkts für Güter, die Auflösung von Staatsmonopolen und die Liberalisierung zahlreicher bislang öffentlicher Dienstleistungen (Telekommunikation, Bahn, Post, Energieversorgung) hat die Notwendigkeit einer EU-weiten sozialpolitischen Regulierung auf hohem Niveau unterstrichen. Im Unterschied zum freien Warenverkehr sind Dienstleistungen in viel stärkerem Maße personengebunden und werden häufig auch von abhängig Beschäftigten erbracht. Dementsprechend müssen auch die Bedingungen, unter denen diese arbeiten, den besonderen sozialpolitischen Zielen aus Artikel 136 des EG-Vertrags entsprechen.

 

Der Richtlinienentwurf enthält keine Ausführungen, wie die Schaffung eines Dienstleistungsbinnenmarkts dazu beitragen kann, das erklärte Ziel der EU zu erreichen, bis 2010 Vollbeschäftigung mit mehr und besseren Arbeitsplätzen zu schaffen. Er schweigt sich dazu aus, wie der Dienstleistungsbinnenmarkt mit einer Verbesserung der Qualität der Dienstleistungsbeschäftigung, der Förderung von Qualifikation und lebenslangem Lernen, der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen verbunden werden kann. Mit dem Herkunftslandprinzip geraten vielmehr die nationale Arbeitsgesetzgebung und Tarifverträge über Löhne, Arbeitsbedingungen sowie Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz unter Druck. Er sieht auch nicht vor, dass die Beschäftigung- und Arbeitsbedingungen in allen der Richtlinie unterliegenden Bereichen ausnahmslos dem Arbeitsortprinzip unterliegen.

 

Zwar behauptet der Entwurf, dass in Bezug auf die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit das Bestimmungslandsprinzip der geltenden EU-Entsenderichtlinie bestehen bleibe. Die Entsenderichtlinie von 1996 sieht vor, dass die „Kernarbeitsnormen“ des Bestimmungslandes gelten – etwa gleiches Mindestentgelt, gleiche Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten etc. für Arbeitnehmer portugiesischer Subunternehmer, die auf einer französischen Baustelle arbeiten. Sie betrifft bisher im Wesentlichen den Bereich des Bauhaupt- und Nebengewerbes. Nach dem "horizontalen" Ansatz der Richtlinie wären jedoch eine Vielzahl weiterer Dienstleistungsbereiche betroffen, was in erster Linie eine entsprechende Ausweitung des Geltungsbereichs der Entsenderichtlinie erforderlich macht. Bereits jetzt ist das europäische Entsenderecht überwiegend geduldiges Papier – in der Praxis treten unzählige Rechtsverletzungen auf, die z.B. mangels EU-Regelungen zur Vollstreckung von Bußgeldbescheiden in anderen Mitgliedstaaten, mangels flächendeckender Kontrollen etc. nicht verfolgt und geahndet werden.

 

Der Richtlinienentwurf nimmt dem Bestimmungsland durch besondere Ausführungsbestimmungen zur Entsenderichtlinie nahezu alle effektiven Kontrollmöglichkeiten. Für die Einhaltung des Entsenderechts soll nämlich das Entsendeland selbst zuständig werden.

 

Gemäß dem Herkunftslandprinzip werden Anforderungen des Bestimmungslandes an einen grenzüberschreitend tätigen Dienstleistungserbringer untersagt, eine Niederlassung zu unterhalten, eine Meldung abzugeben, eine Genehmigung zu beantragen, eine Registrierung vorzunehmen, eine Anschrift zu nennen oder eine vertretungsberechtigte Person zu stellen (Art. 16 Abs. 3a-d, g). Damit könnten alle Unternehmen, die ihren formalen Sitz außerhalb des Ziellands haben, zu weitgehend unkontrollierten Konditionen Dienstleistungen erbringen. Diese Freiheit gilt sowohl für die Beschäftigung inländischer Arbeitskräfte als auch für Entsendekräfte aus anderen EU-Ländern oder aus Drittstaaten (Artikel 24 und 25 „Entsendung von Arbeitnehmern“). Artikel 24 Absatz 1d verbietet dem Zielland, Dienstleistern aus dem EU-Ausland die Vorhaltung oder Aufbewahrung von Sozialversicherungsunterlagen vorzuschreiben. Die deutschen Sozialversicherungsträger wundern sich zu recht, „wie dann die anzuwendenden Rechtsvorschriften bzw. die Sozialversicherungspflicht (...) zweifelsfrei festgestellt werden sollen“ (Deutsche Sozialversicherung 2004: 5). Da im Tätigkeitsland niemand nach entsprechenden Dokumenten fragen darf und eine effektive Kontrolle durch das Herkunftsland unrealistisch ist, könnten Unternehmen über längere Zeit sozialversicherungsfrei arbeiten.

 

Die Aufdeckung und Ahndung derartiger Verstöße erschwert sich ebenfalls, da die Betriebe nach dem Richtlinienvorschlag keinen Vertreter im Zielland bestellen müssen. Diese Regelung behindert auch die Eintreibung von Unfallversicherungsbeiträgen, „wenn z.B. der ausländische Entsendearbeitgeber in Deutschland Ortskräfte bestellt, die deutschem Sozialversicherungsrecht unterliegen und für die deshalb deutsche Beiträge abgeführt werden müssen“ (Deutsche Sozialversicherung 2004: 4). Die gleichen Umgehungsmöglichkeiten bei der Abführung von Unfallversicherungsbeiträgen könnten selbstverständlich auch deutsche Unternehmen nutzen, die in anderen EU-Staaten örtliche Arbeitskräfte einsetzen. Insgesamt würden die Bestimmungen des Richtlinienentwurfs dafür sorgen, dass die EU-Entsenderichtlinie und die nationalstaatlichen Entsendegesetze in der Praxis völlig ausgehebelt würden.

 

Artikel 16 Absatz 3f. verbietet zudem Vorschriften über die vertraglichen Beziehungen zwischen Dienstleistungserbringer und -empfänger, die „eine selbständige Tätigkeit des Dienstleistungserbringers“ beschränken. Damit wird sowohl „scheinselbständigen“ Beschäftigungsformen der Weg geebnet als auch dem Preisdumping bei der Auftragsvergabe. So könnte ein deutsches Unternehmen eine Briefkasten-Firma im EU-Ausland gründen, die hiesige IngenieurInnen oder ArchitektInnen unter Umgehung der einschlägigen Honorarordnung beauftragt.

 

 

4. Geltungsbereich der Richtlinie: Widerspruch zu bestehendem EU-Recht und laufenden Vorhaben

 

Der Geltungsbereich der Richtlinie erstreckt sich auf sämtliche Dienstleistungen, die als „wirtschaftliche Tätigkeiten“ betrachtet werden. Die Kommission zählt eine Reihe von Beispielen auf: „Unternehmensberatung, Zertifizierungs- und Prüfungs- oder Wartungstätigkeiten, die Unterhaltung und die Bewachung von Büroräumen, Werbung, Personalagenturen, einschließlich Zeitarbeitsvermittlungen, die Dienste von Handelsvertretern, Rechts- und Steuerberatung, Dienstleistungen des Immobilienwesens, wie die Tätigkeit der Immobilienmakler, Dienstleistungen des Baugewerbes und der Architekten, Handel, die Veranstaltung von Messen, die Vermietung von Kraftfahrzeugen, Sicherheitsdienste, Dienstleistungen der Fremdenverkehrsbranche, einschließlich der Dienste von Reisebüros und Fremdenführern, audiovisuelle Dienste, Sportzentren und Freizeitparks, Dienstleistungen im Freizeitbereich, Gesundheitsdienstleistungen und häusliche Dienste, wie die Pflege älterer Menschen.“ Explizit ausgenommen wären laut Artikel 2 lediglich einzelne Tätigkeiten auf dem Gebiet der Finanzdienstleistungen, der elektronischen Kommunikation und dem Verkehr, da diese bereits durch andere EU-Richtlinien erfasst werden. Ferner gilt der Richtlinienvorschlag mit zwei Ausnahmen auch nicht für das Steuerwesen.

 

Eine Reihe von Dienstleistungsbereichen werden bereits durch bestehende sektorale EU-Liberalisierungsrichtlinien abgedeckt, z.B. die Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“ oder die Richtlinien zum Energiebinnenmarkt, zu Telekommunikation, Postdiensten, E-Commerce und Eisenbahn. Hierzu stellt der Richtlinienentwurf fest: „Fällt eine Dienstleistungstätigkeit bereits unter einen oder mehrere Gemeinschaftsrechtsakte, so sind diese zusammen mit dieser Richtlinie anwendbar; die Anforderungen ergänzen sich gegenseitig“. Noch deutlicher heißt es in der Begründung, dass „die Richtlinie und diese anderen Rechtsakte kumulativ angewandt“ werden, „d.h. die jeweiligen Anforderungen addieren sich“. Sie würde damit auch jenen Bereichen Verschärfungen erzwingen, die bereits dem Binnenmarktprogramm unterworfen sind. Dies ist so nicht hinnehmbar.

 

Der Richtlinienentwurf steht in deutlichem Widerspruch zu parallel laufenden EU-Gesetzgebungsvorhaben und Diskussionen und zu bereits geltenden sektoralen EU-Richtlinien. Die Stimmigkeit und Kohärenz des EU-Rechts würde bei seiner Annahme schwer beschädigt.

 

Die Kommission hat mit ihrem Grünbuch und ihrem Weißbuch zur Daseinsvorsorge (Dienste im allgemeinen Interesse) eine Debatte um Definition, präzise Abgrenzung ihrer Aufgaben und Finanzierungsregelungen der öffentlichen Daseinsvorsorge und ihre Stellung im Rahmen des EU-Wettbewerbsrechts eingeleitet. Die EU-Verfassung hat die Option eröffnet, diese Fragen durch eine EU-Rahmenrichtlinie zu regeln. Die Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge und der sozialen Sicherungssysteme unterscheiden sich wesentlich von Dienstleistungen wie Autovermietung oder Fremdenverkehr. Es ist daher völlig inakzeptabel, dass Leistungen der Daseinsvorsorge (z.B. Wasserver- und Abwasserentsorgung, usw.) durch die geplante Richtlinie zum Dienstleistungsbinnenmarkt parallel erfasst werden und auf ihre Liberalisierung hingewirkt wird. Die diesen Bereich betreffenden Fragen müssen im Rahmen der Debatte um die Daseinsvorsorge behandelt werden. Gesundheits- und Pflegedienste sind Bestandteil der sozialen Sicherungssysteme und müssen entsprechend systemkonform im Rahmen der bestehenden Richtlinie 1408/71 zur Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme geregelt werden. Es kann nicht angehen, dass über die Hintertür einer Richtlinie zum Dienstleistungsbinnenmarkt ein Einstieg in die EU-weite Liberalisierung des Gesundheitswesens und der Pflegedienste angeschoben wird.

 

Ebenso befindet sich derzeit eine EU-Richtlinie zur Zeit- und Leiharbeit in Verhandlung, die unter anderem den Grundsatz der Gleichbehandlung mit den Beschäftigten des Einsatzbetriebes vorsieht. Da die vorübergehende grenzüberschreitende Leiharbeit lediglich insoweit von der EU-Entsenderichtlinie erfasst wird, als sie den zwingenden Geltungsbereich des Bauhaupt- und Nebengewerbes betrifft, besteht auch hier darüber hinaus gehender Regelungsbedarf im Hinblick auf alle nicht erfassten Dienstleistungssektoren und die dauerhafte Entsendung. Es ist vor diesem Hintergrund unverständlich und völlig inakzeptabel, dass Zeit- und Leiharbeit (und damit wesentliche sozial-, arbeits- und beschäftigungspolitische Fragen) durch eine Liberalisierungsrichtlinie zum Dienstleistungsbinnenmarkt parallel geregelt werden sollen.

 

Ebenso verhält es sich mit dem vorliegenden Entwurf einer EU-Richtlinie zur Anerkennung beruflicher Qualifikationen, welcher eine EU-weit harmonisierte Anerkennung von Abschlüssen anstrebt. Für die Qualität von Dienstleistungen ist es wesentlich, welche beruflichen Qualifikationen ein Dienstleistungsanbieter aufweist. Deshalb ist die Richtlinie zur Anerkennung beruflicher Qualifikationen vorrangig zu behandeln, da sie weit mehr Regelungsbereiche erfasst als die bloße grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung. Die geplante Richtlinie zum Dienstleistungsbinnenmarkt darf einer solchen umfassenden Regelung nicht vorgreifen.

 

Die Dienstleistungsrichtlinie soll nach ihrer gegenwärtigen Fassung auch für die Rechtsberatung und damit für die Tätigkeit der Rechtsanwälte gelten (vgl. Erwägungsgrund 14). Dies ist vollkommen überflüssig, da die Tätigkeit der Rechtsanwälte bereits durch mehrere EU-Richtlinien reglementiert wird (Richtlinie 77/249/EWG zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte, Richtlinie 89/48/EWG über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen, Richtlinie 98/5/EG Niederlassungsrichtlinie für Rechtsanwälte).

 

Eine Harmonisierung der Bestimmungen über die Rechtsanwaltstätigkeit über das bereits erreichte Maß hinaus ist nicht erforderlich und auch nicht sachgerecht. Denn die Verschiedenheit der nationalen Rechtsordnungen bedingt schon aus Gründen des Verbraucherschutzes notwendigerweise Grenzen für die freie Verkehrsfähigkeit rechtsberatender Dienstleistungen. Zwar soll das Herkunftslandsprinzip auf anwaltliche Tätigkeiten keine Anwendung finden. Dies wirft jedoch unnötige Abgrenzungsfragen auf. So ist beispielsweise nicht ersichtlich, wie sich die allgemeine Ausnahme der anwaltlichen Tätigkeit vom Herkunftslandprinzip (Artikel 17-7) zu der nur vorübergehenden Ausnahme für "Tätigkeiten zur gerichtlichen Beitreibung von Forderungen" verhält (Artikel 18 Abs. 1 Buchstabe c). Die gerichtliche Beitreibung von Forderungen gehört zu den typischen Tätigkeiten der Rechtsanwälte.

 

Darüber hinaus ist es auch nicht sinnvoll, z. B. Notare oder Steuerberater in den Geltungsbereich der Richtlinie einzubeziehen. Neben Gerichten und Behörden sind nur Notare befugt, öffentliche Urkunden mit für ein Gerichtsverfahren bindender Beweiskraft aufzunehmen sowie Urkunden mit der Vollstreckungsklausel zu versehen und damit die zwangsweise staatliche Durchsetzung der darin enthaltenen Ansprüche zu bewirken. Dies ist unmittelbare Ausübung staatlicher Hoheitsbefugnisse und keine freie marktwirtschaftliche Dienstleistung. Die besonderen Wirkungen notarieller Rechtsakte sind überhaupt nur möglich, weil der Notar öffentliche Gewalt ausübt, die ihm vom Staat übertragen worden ist. Grenzüberschreitende Steuerberatungsleistungen sind nach dem Richtlinienvorschlag weder vom Anwendungsbereich des Artikel 2 ausgenommen noch fallen Sie unter die in Artikel 17 aufgeführten Ausnahmeregelungen vom Herkunftslandprinzip. Demzufolge könnte ein Dienstleistungserbringer aus einem anderen EU-Mitgliedstaat z. B. in Deutschland steuerberatend tätig werden, ohne irgendeinen Nachweis über ausreichende Kenntnisse im deutschen Steuerrecht erbracht zu haben und ohne der deutschen Berufsaufsicht zu unterliegen. Dies bedeutet, dass der inländische Leistungsempfänger (Verbraucher) weder einen Anhaltspunkt für die Qualität der Leistung des ausländischen Leistungserbringers hat noch die Möglichkeit besitzt, in dem Fall, in dem die Qualität nicht den Anforderungen genügt, im Inland Sanktionen herbeizuführen.

 

Der Richtlinienentwurf nimmt auch die audiovisuellen Dienstleistungen in seinen Geltungsbereich auf, was insbesondere die Bereiche Rundfunk und Filmförderung betreffen würde. Audiovisuelle Medien haben eine über den wirtschaftlichen Aspekt hinausgehende weit reichende kulturelle Bedeutung. Diesen kulturellen Aspekten muss die Europäische Gemeinschaft gemäß Artikel 151 Abs. 3 EGV Rechnung tragen. Zur Wahrung und Förderung der kulturellen Vielfalt verbietet Artikel 151 Abs. 5 EGV deshalb Harmonisierungen in diesem Bereich. Entsprechend hat die EU klar Position bezogen, den audiovisuellen Bereich aus den WTO/GATS-Verhandlungen herauszuhalten. Umso unverständlicher ist es, dass sie ihn nun in eine EU-Liberalisierungsrichtlinie einbeziehen will.

 

Die Abgrenzung zu anderen europäischen Regelungen wird nur unzureichend vorgenommen und es fehlt an eindeutigen Kollisionsnormen. Durch die in der Richtlinie vorgesehene kumulative Anwendung anderer europäischer Rechtsakte kann es zu erheblichen Wertungswidersprüchen kommen. Im Rundfunkbereich rechtfertigen unter anderem die Sicherung des Medien- und Meinungspluralismus, die Frequenzknappheit, der Jugendschutz und der Verbraucherschutz besondere Zulassungssysteme. Die Definition und Ausgestaltung dieser Ziele liegen in der alleinigen Kompetenz der Mitgliedstaaten und können nicht unter reinen Binnenmarktsgesichtspunkten auf die Gemeinschaft verlagert werden.

 

Artikel 20 b des Richtlinienentwurfs untersagt bei Anwendung auf die Filmförderung so genannte Territorialisierungsklauseln, wonach die staatliche Förderung in einem bestimmten Umfang an die Verwendung in einem bestimmten Mitgliedstaat gebunden ist. Die filmwirtschaftlichen Mitteilung der Kommission vom 16. März 2004 (KOM(2004) 171 endg.) hat die Gültigkeit dieser Territorialisierungsklauseln aber gerade bis zum 30. Juni 2007 verlängert. Aus Erwägungsgrund 34 des Richtlinienentwurfs ergibt sich, dass die nationalen Weiterverbreitungsvorschriften ("must-carry") für die Kabeleinspeisung der Überprüfung nach Maßgabe der Richtlinie unterliegen sollen. "Must-carry"-Vorschriften dienen z.B. dazu, dass öffentlich-rechtliche Programme in den Kabelnetzen hinreichend vertreten sind. Diese Vorschriften sind aber Gegenstand von Artikel 31 der EU-Universaldienstrichtlinie und gehören nach Artikel 2 Abs. 2b des Richtlinienentwurfs zum Dienstleistungsbinnenmarkt gerade nicht in dessen Geltungsbereich. Im Unterschied zur Fernsehtätigkeit würde der Hörfunk erstmals durch diese Richtlinie vom EU-Recht erfasst. Dies ist völlig inakzeptabel, da grenzüberschreitende Aspekte beim Hörfunk nicht von Bedeutung sind.

 

5. Schwindende Kontrolle unternehmerischer Tätigkeit und bedenkliche Schlupflöcher für Wirtschaftskriminalität

 

Der Richtlinienentwurf verbietet im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit in Artikel 14 jedem Mitgliedstaat, dem Dienstleistungsunternehmen die Pflicht zur Errichtung einer Hauptniederlassung aufzuerlegen, Mehrfachregistrierungen zu untersagen, eine Mindestdauer der Tätigkeit auf dem eigenen Hoheitsgebiet zu verlangen oder einen Mindestzeitraum für die Aufrechterhaltung der Unternehmensregistrierung in seinem eigenen Register vorzuschreiben. Unklar ist, ob die spezifischen Bestimmungen der geltenden Offenlegungsrichtlinie (68/151/EG in der Fassung 2003/58/EG) und der Zweigniederlassungsrichtlinie (89/666/EWG) weiterhin Bestand haben sollen. Die Schaffung eines europäischen Registers ist ebenfalls nicht vorgesehen. Ein Unternehmen könnte sich demnach einfach in dem Mitgliedstaat mit den niedrigsten rechtlichen Anforderungen und Kontrollen registrieren lassen – Briefkastenfirma genügt – und danach in jedem anderen Mitgliedstaat zu dessen „günstigen Heimatbedingungen“ tätig werden.

 

War für bisher für solche Briefkasten-Firma-Konstruktionen die Steuerflucht das treibende Motiv, kommt mit der Dienstleistungsrichtlinie ein ganzer Reigen weiterer Anreize hinzu, wie die Umgehung von Umwelt-, Arbeits- und Gesundheitsstandards, Qualifikationsanforderungen und Tarifverträgen. Schon jetzt warten diverse EU-Staaten mit verschiedensten Unternehmenskonstruktionen vornehmlich für die grenzüberschreitende "Steuervermeidung" auf, seien dies so genannte Koordinierungszentren (Belgien, Luxemburg, Spanien, Deutschland), Holdinggesellschaften (Niederlande, Luxemburg, Österreich, Dänemark) oder diverse Finanzdienstleistungs-, Verwaltungs- und Logistikzentren (Irland, Frankreich, Italien).

 

Mit der Verabschiedung der Dienstleistungsrichtlinie wäre es vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis spezifische Unternehmensvehikel für die Ausnutzung der unterschiedlichen Regulierungsniveaus zwischen den EU-Mitgliedern entwickelt würden. Die nicht zu unterbindende Mehrfachregistrierung würde es dann z. B. einem deutschen Unternehmen ermöglichen, mit einer Sparte formal von den Niederlanden aus EU-weit tätig zu werden (also auch innerhalb Deutschlands), mit einer anderen aus Belgien – je nach dem, wo die Rahmenbedingungen für den jeweiligen Geschäftszweig am "günstigsten" sind. Eine rasante ‚Ausflaggungswelle‘ von Dienstleistungsunternehmen in Länder mit den niedrigsten rechtlichen Anforderungen und Kontrollen für ihre unternehmerische Tätigkeit wäre dann zu erwarten.

 

Zur Gewährleistung des freien grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs (Dienstleistungsfreiheit) dürfen die Mitgliedstaaten zudem von Dienstleistern nicht verlangen, „die auf ihrem Hoheitsgebiet für die Erbringung einer Dienstleistung geltenden Anforderungen zu erfüllen“ (Art. 16 Abs. 3e). Mit diesen Anforderungen sind sämtliche Regelungen gemeint, die „das Verhalten der Dienstleistungserbringer, die Qualität oder den Inhalt der Dienstleistung, die Werbung, die Verträge und die Haftung der Dienstleistungserbringer“ betreffen (Art. 16 Abs. 1). Die Standards des Tätigkeitslands bestünden folglich nur noch für inländische Unternehmen, nicht mehr für all jene, die ihren Sitz in anderen EU-Staaten haben oder dorthin verlagern, um strengere inländische Auflagen zu umgehen. Für Kontrollaufgaben wird das Herkunftsland zuständig: „Der Herkunftsmitgliedstaat ist dafür verantwortlich, den Dienstleistungserbringer und die von ihm erbrachten Dienstleistungen zu kontrollieren, auch wenn er diese in einem anderen Mitgliedstaat erbringt“ (Art. 16 Abs. 2).

 

Welches Interesse sollte allerdings ein Herkunftsland haben, die Auslandsgeschäfte der bei ihm beheimateten Unternehmen zu kontrollieren? Warum sollte es ihnen Geschäftsmöglichkeiten verbauen, die sich positiv in seiner Außenwirtschaftsbilanz niederschlagen? Verfügen die Behörden überhaupt über die finanziellen und personellen Ressourcen, um derartige Zusatzaufgaben zu übernehmen? Und nicht zuletzt: Wie kann es zu einer effektiven Wirtschaftsaufsicht kommen, wenn das Herkunftsland keinerlei Befugnisse hat, vor Ort im Zielland Kontrollen durchzuführen? Auf diese offensichtlichsten Einwände gegen das Herkunftslandprinzip liefert die Dienstleistungsrichtlinie keinerlei Antworten. Stattdessen begnügt sie sich mit blumigen Maßnahmen gegenseitiger Unterstützung und der Verwaltungszusammenarbeit (Art. 35-37).

 

Dabei wird es für das Bestimmungsland sehr schwierig, selbst Verstöße von Dienstleistungserbringern aus dem EU-Ausland gegen die öffentliche Ordnung oder gegen die öffentliche Gesundheit zu verfolgen. Nach Artikel 19 ist ihm dies nur im Einzelfall gestattet und unter hohen Auflagen: seine Sanktionsmaßnahme muss „verhältnismäßig“ sein; sie darf nur dann erfolgen, wenn das Herkunftsland nachweislich nicht oder unzureichend reagiert hat und sie muss für den Dienstleistungserbringer „einen größeren Schutz“ erbringen als diejenigen, die „der Herkunftsmitgliedstaat aufgrund seiner innerstaatlichen Vorschriften ergreifen würde.“ Die Ahndung von Verstößen gegen die öffentliche Ordnung und öffentliche Gesundheit wird somit erheblich erschwert.

 

Ebenso ist das Kontrollverfahren nach Artikel 35 und 36 des Entwurfs gegenüber Dienstleistern, die sich rechtswidrig verhalten haben oder gar Gesundheit und Sicherheit von Personen gefährden, äußerst kompliziert und zeitaufwändig. Die zuständigen Behörden des Bestimmungslands, des Herkunftslands und die Kommission müssen zunächst informiert werden. Danach soll das Herkunftsland in Aktion treten und über seine Untersuchungsergebnisse und Maßnahmen berichten. Treten Schwierigkeiten mit einer Anfrage auf, „informieren die Mitgliedstaaten umgehend den anfragenden Mitgliedstaat, um eine gemeinsame Lösung zu finden.“. Wirtschafts- und anderen Kriminellen verschafft dieses aufwändige und zeitraubende Verfahren erhebliche Vorteile.

 

Artikel 25 untersagt dem Bestimmungsland, von fremdregistrierten Dienstleistungsunternehmen für Beschäftigte aus Nicht-EU-Staaten die Vorlage von Aufenthalts- und Arbeitserlaubnispapieren zu verlangen. Die Kontrolle, ob diese Beschäftigten aus Drittstaaten eine gültige Aufenthaltserlaubnis haben und legal beschäftigt sind, obliegt dem Herkunftsland. Wie diese Kontrolle durch das Herkunftsland zeitnah und effektiv vonstatten gehen soll, bleibt unklar. Damit wird die Ausbeutung rechtloser, illegaler Arbeitskräfte deutlich erleichtert.

 

 

6. Widerspruch zu den Bestimmungen des EG-Vertrags

 

Die weitreichenden Vorschläge des Richtlinienentwurfs werden durch die Bestimmungen des geltenden EG-Vertrags nicht gedeckt. Artikel 43 EGV stellt lediglich fest, dass die Niederlassungsfreiheit innerhalb der EU die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen umfasst, und zwar „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen“. Richtlinien zur Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit werden vom Rat „für eine bestimmte Tätigkeit“ erlassen. Auch im Hinblick auf Dienstleistungen (freier Dienstleistungsverkehr) regelt Artikel 52 EGV den Erlass von Richtlinien „zur Liberalisierung einer bestimmten Dienstleistung“, also klar abgegrenzte bereichsspezifische Regelungen. Der Richtlinienentwurf der Kommission ist hingegen „horizontal“, also fach-, sparten- und berufsfeldübergreifend auf eine Vielzahl von Dienstleistungstätigkeiten angelegt, und nicht auf „bestimmte Tätigkeiten“ oder „bestimmte Dienstleistungen“ wie Handel, IT-Dienstleistungen, Fremdenverkehr usw.

 

Ferner sollen die Mitgliedstaaten zur Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit bestimmte von der Kommission als unzulässig deklarierte Auflagen an die Dienstleistungserbringer vollständig beseitigen, weitere Auflagen auf ihre Verzichtbarkeit nach den Grundsätzen der Diskriminierungsfreiheit, der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit hin überprüfen und gegenseitig evaluieren sowie neu geplante Rechts- und Verwaltungsvorschriften von der Kommission vor ihrem Erlass genehmigen zu lassen. Auch dies geht weit über die Bestimmungen des gegenwärtigen EG-Vertrags zum Niederlassungsrecht hinaus, welche nur eine Gleichbehandlung von Niederlassungswilligen aus anderen EU-Mitgliedstaaten („wie eigene Staatsangehörige“) verlangen.

 

Nach Artikel 50 EGV (freier Dienstleistungsverkehr) „kann der Leistende zwecks Erbringung seiner Leistungen seine Tätigkeit vorübergehend in dem Staat ausüben, in dem die Leistung erbracht wird, und zwar unter den Voraussetzungen, welche dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt.“ Die Verankerung des Herkunftslandprinzips für den freien Dienstleistungsverkehr in der vorgeschlagenen Richtlinie widerspricht diametral diesen klaren Aussagen des EG-Vertrags, denn Dienstleister aus anderen EU-Mitgliedstaaten würden dann ja nicht mehr unter denselben Voraussetzungen operieren müssen wie einheimische.

 

Artikel 2 Abs. 2 Buchstabe c des Richtlinienvorschlags beinhaltet, dass die Dienstleistungsrahmenrichtlinie subsidiär auch auf Verkehrsdienstleistungen angewandt werden soll. Auch dies widerspricht den Bestimmung des EG-Vertrags: Während Artikel 50 EGV Dienstleistungen allgemein regelt, sieht Artikel 51 EGV Sonderbestimmungen für das Gebiet des Verkehrs vor. Verkehrsdienstleistungen unterliegen wegen ihrer internationalen Einbindung spezifischen Anforderungen. Die Anwendung der vorgeschlagenen Richtlinie auf Verkehrsdienstleistungen wird dieser im primären Gemeinschaftsrecht vorgegebenen Sonderrolle nicht gerecht. Dies gilt insbesondere für Richtlinienvorschläge nach dem Verkehrstitel des EG-Vertrags, die nach Ablehnung durch das Europäische Parlament oder den Rat gescheitert sind, wie unlängst beispielsweise der Richtlinienvorschlag über den Marktzugang für Hafendienste (Port Package).

 

Die hier zitierten einschlägigen Artikel des geltenden EG-Vertrags finden sich übrigens - in veränderter Nummerierung, aber gleichem Wortlaut - in der von der Regierungskonferenz 2004 verabschiedeten EU-Verfassung, deren Ratifizierung noch aussteht.

 

 

7. Unzureichende Regelungen zu Qualitätsstandards

 

Obwohl die Kommission eine hohe Qualität der Dienstleistungen anstrebt, verzichtet sie darauf, europaweit einheitliche und verbindliche Regelungen zu Qualitätsstandards vorzuschlagen. Sie will vielmehr die Anbieter dazu ermutigen, „freiwillig die Qualität der Dienstleistungen zu sichern“ (Art. 31). Im Angebot hat sie Zertifizierungen, Gütesiegel, Selbstverpflichtungen sowie freiwillige Standards und Verhaltenskodizes auf Gemeinschaftsebene (Art. 31 und Art. 39). Letztere sind sicher sinnvoll, müssen aber auf einem Fundament verbindlicher gesetzlicher Regelungen zu Qualitätsanforderungen aufbauen.

 

 

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Fazit finanzielle Auswirkungen

 

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