Antrag - 04/SVV/0975
Grunddaten
- Betreff:
-
Resolution zum Vorschlag einer EU-Richtlinie zur Schaffung eines Binnenmarktes für Dienstleistungen KOM (2004) 02
- Status:
- öffentlich (Vorlage abgeschlossen)
- Vorlageart:
- Antrag
- Federführend:
- Fraktion Die Linke
- Einreicher*:
- Fraktion PDS
Beratungsfolge
Status | Datum | Gremium | Beschluss | PA |
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Erledigt
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Stadtverordnetenversammlung der Landeshauptstadt Potsdam
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Entscheidung
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02.02.2005
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02.03.2005
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Erledigt
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Hauptausschuss
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Vorberatung
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23.02.2005
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Beschlussvorschlag
Die
Stadtverordnetenversammlung möge beschließen:
Die
Stadtverordnetenversammlung der Landeshauptstadt Potsdam hat sich auf ihrer
Sitzung am 2. Februar 2005 ausführlich mit dem Vorschlag der Europäischen
Kommission für eine Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt befasst.
Der Richtlinienentwurf
ist äußerst unausgewogen und verletzt in erheblicher Weise das im Vertrag über
die Europäische Union verankerte Subsidiaritätsprinzip:
-
Er unterwirft wesentliche Leistungen der Daseinsvorsorge
(Wasserwirtschaft, Abfallwirtschaft usw.), soziale Dienste und durch die
Sozialversicherungen geregelte Dienstleistungen (Gesundheitsdienste, Pflege)
einer allgemeinen Liberalisierung und greift damit tief in die Kompetenzen der
Mitgliedstaaten, ihrer regionalen Untergliederungen und Kommunen ein, diese
Leistungen in eigener Verantwortung zu regeln.
-
Er schafft mit der breiten Verankerung des Herkunftslandprinzips
ungleiche Wettbewerbsbedingungen für Dienstleistungen im europäischen
Binnenmarkt, durchlöchert das einheitliche Recht der Mitgliedstaaten und
organisiert so einen Wettlauf der mitgliedstaatlichen Rechtssysteme um niedrige
Qualitäts-, Arbeits-, Sozial-, Verbraucherschutz- und Umweltstandards.
-
Er verzichtet auf eine sozialpolitische Regulierung des
Dienstleistungsbinnenmarktes und macht eine effektive Kontrolle der Einhaltung
des geltenden deutschen und EU-Rechts zur Arbeitnehmerentsendung unmöglich.
-
Er erschwert eine effektive Wirtschafts- und Unternehmensaufsicht
und bietet unzureichende Vorkehrungen zur Bekämpfung von
Wirtschaftskriminalität.
Die
Stadtverordnetenversammlung der Landeshauptstadt Potsdam unterstützt die
Stellungnahme der kommunalen Spitzenverbände zu diesem Richtlinienvorschlag.
Der
Oberbürgermeister wird beauftragt, diese Haltung in geeigneter Weise öffentlich
zu machen.
Erläuterung
Begründung:
Nach Angaben der
Europäischen Kommission würde ihr Vorschlag einer Richtlinie über
Dienstleistungen im Binnenmarkt etwa 50 Prozent der Wirtschaftstätigkeit in der
Europäischen Union betreffen. Dies unterstreicht die hohe Bedeutung dieses
Vorhabens. Das erklärte Ziel des Richtlinienvorschlags ist die Schaffung eines
EU-Binnenmarkts für Dienstleistungen bis 2010. Sein programmatische Titel
lautet: „Abbau der bürokratischen Hindernisse für die Wettbewerbsfähigkeit
Europas“. Der Kommissionsvorschlag ist als horizontale Rahmenrichtlinie
konzipiert, die – von einigen Ausnahmen abgesehen – den gesamten
Dienstleistungssektor erfasst. Die Dienstleistungsbereiche werden somit nicht sektoral
nach ihren jeweiligen Sparten und deren Besonderheiten geregelt.
1. Keine EU-weit
einheitlichen und gleichen Wettbewerbsbedingungen
Die Schaffung eines
einheitlichen EU-Binnenmarkts für Dienstleistungen kann ein sinnvolles Ziel zur
Fortentwicklung der Europäischen Union sein. Ebenso sinnvoll ist es, dass marktförmig
und privatwirtschaftlich erbrachte Dienstleistungen dem Wettbewerbsprinzip
unterworfen werden, um im Verbraucherinteresse einen adäquaten Leistungs- und
Qualitätswettbewerb zu fördern.
Erstens muss ein
einheitlicher EU-Dienstleistungsbinnenmarkt für marktförmig und
privatwirtschaftlich erbrachte Dienstleistungen jedoch auf dem Prinzip
eines fairen Wettbewerbs fußen. Faire Wettbewerbsbedingungen erfordern,
einen hinreichend breiten Kernbestand an einheitlichen EU-Regelungen
festzulegen, die für alle Wettbewerber gleichermaßen gelten: Ein „gleichmäßiges
Spielfeld“ (Level Playing Field) mit gleichen Regeln für alle. In der
Tradition des europäischen Sozialmodells und gemäß den Zielbestimmungen des
geltenden Vertrags von Nizza ist die EU gefordert, die Bedingungen für einen
fairen Wettbewerb insbesondere an den Zielen einer hohen Qualität und
Sicherheit der Dienstleistungen, einem hohen Niveau des Verbraucherschutzes und
des Gesundheitsschutzes, eines hohen Niveaus des Umweltschutzes und der
Umweltqualität, eines hohen Niveaus des sozialen Schutzes und der
Gleichstellung von Frauen und Männern zu orientieren. Diese Anforderung erfüllt
der vorliegende Richtlinienentwurf nicht.
Zur Gewährleistung
des freien grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs sieht der
vorliegende Richtlinienentwurf die Verankerung des Herkunftslandsprinzips vor.
Nach dem Herkunftslandprinzip unterliegt „der Dienstleistungserbringer
einzig den Rechtsvorschriften des Landes (...), in dem er niedergelassen ist.“
Demnach dürfen „die Mitgliedstaaten die Erbringung von Dienstleistungen durch
in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassene Dienstleistungserbringer nicht
beschränken“. Dieses Prinzip wird durch generelle Ausnahmeregelungen,
Übergangsregelungen und spezielle Ausnahmen für Einzelfälle ergänzt.
Der Deutsche
Bundesrat stellt dazu mit Recht fest: „Die Regelung geht weit über das vom
europäischen Vertragsrecht Geforderte hinaus, indem sie ‑ abgesehen von den in
Artikel 17 aufgezählten Ausnahmen - eine vollständige Akzeptanz der vom
Herkunftsstaat an die Dienstleistungserbringung gestellten Anforderungen dem
Grunde nach verlangt. Folge hiervon wäre, dass im jeweiligen Mitgliedstaat kein
einheitliches Recht gelten würde, was das rechtsstaatliche Prinzip der
Rechtssicherheit beeinträchtigt. Das Recht wäre von Person zu Person, je nach
Herkunft, verschieden, was die Rechtsanwendung erschwert. (...) Das Fehlen europarechtlicher
Harmonisierungsregelungen kann nicht dadurch umgangen werden, dass die
Mitgliedstaaten zur unbedingten Anerkennung fremder Rechtsordnungen
verpflichtet werden. Es erscheint zudem zweifelhaft, ob die von der Kommission
vorgesehenen Regelungen (Artikel 19, 34 bis 37) ausreichen, um die Kontrolle
aus dem Herkunftsland wirksam durchzuführen.“
Im Klartext: Mit dem
Herkunftslandprinzip würde eben kein gleicher und einheitlicher
EU-Regulierungsrahmen für die Dienstleistungserbringer geschaffen, sonder im
Gegenteil ein radikaler Wettbewerb der mitgliedstaatlichen Rechtssysteme
eingeleitet. In jedem einzelnen Mitgliedstaat würden künftig bis zu 25
verschiedene Unternehmens-, Sozial- und Tarifrechtsysteme etc. neben- und
miteinander konkurrieren. Im Vorteil wären Dienstleistungserbringer aus jenen
Mitgliedstaaten, welche die jeweils niedrigsten Standards in Bezug auf die
Kontrolle der Unternehmertätigkeit, die Qualifikationsanforderungen, die
Qualität und Qualitätskontrolle, die Besteuerung und die Sozial- und
Beschäftigungsbedingungen, den Umwelt- und Verbraucherschutz bieten. Im
Ergebnis würden durch die Richtlinie ungleiche Wettbewerbsbedingungen
innerhalb der EU geschaffen, die in einen radikalen Unterbietungs- und
Dumpingwettlauf münden könnten, wobei ein hohes Leistungs- und
Qualitätsniveau auf der Strecke blieben. Eine solche Entwicklung dient auch
sicher nicht dem erklärten Ziel der Kommission, die „Wettbewerbsfähigkeit
Europas“ zu verbessern.
Die geplante Dienstleistungsrichtlinie soll unter
anderem auch die Tätigkeit von Sachverständigen, Untersuchungs- und Messstellen
etc. betreffen, deren Tätigkeit im Vorfeld oder im engen Zusammenhang mit
umweltrechtlichen Genehmigungs- und Überwachungsverfahren steht. Im
Abfallbereich gilt Entsprechendes bezüglich der Dienstleistungen von
Sachverständigen, Abfallsammlungs- und ‑beförderungsbetrieben etc. Diese
Tätigkeiten werden derzeit von den Mitgliedstaaten geregelt, welche auf
national höhere Umweltstandards als die aus dem EU-Umweltrecht hervorgehenden
Mindestanforderungen beruhen können. Die Anwendung des Herkunftslandsprinzips
für grenzüberschreitende Dienstleistungstätigkeiten in diesem Bereich könnte zu
einer Konkurrenz unterschiedlichen nationalstaatlichen Umweltrechts führen.
Verschärfend kommt
hinzu, dass die Kommission zunächst die Regelungen zum Herkunftslandsprinzip
durchsetzen möchte und erst in einem späteren Stadium „nach Bedarf“ in Sachen
Verbraucherschutz usw. nachreguliert werden soll. Ein einheitlicher
EU-Dienstleistungsbinnenmarkt muss hingegen von Anfang an ein sehr hohes Niveau
an Verbraucherschutz gewährleisten, weil Kundenvertrauen sonst nicht entstehen
kann.
Mit Bezug auf die
Niederlassungsfreiheit von Dienstleistungserbringern (Artikel 14) sieht der
Richtlinienentwurf das sofortige Verbot bestimmter mitgliedstaatlicher Auflagen
vor (siehe Abschnitt 5 „Schwindende Kontrolle unternehmerischer Tätigkeit“).
Andere Auflagen sollen wiederum auf ihre Verzichtbarkeit hin überprüft werden.
So werden in Artikel 15 alle Regelungen zur Mindestkapitalausstattung, zur
Rechtsform, zur Begrenzung der Zahl der Marktteilnehmer, für Mindest- oder
Höchstpreise, Sonderverkäufe und Verkauf unter Einstandspreis unter Prüfungs-
und Begründungszwang gestellt und geplante neue Vorschriften auf diesem Gebiet
einer Vorzensur durch die Kommission unterworfen. Das kartellrechtliche Verbot
von Verkäufen unter Einstandspreis ist zwingend erforderlich, um kleine und
mittelständische Betriebe vor Verdrängungspraktiken großer Konkurrenten zu
schützen. Eine Prüfung auf Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der
Regelung ist daher unangebracht und widerspricht der offiziellen Darstellung
der Kommission, der Dienstleistungsbinnenmarkt werde den Wettbewerb fördern und
vor allem kleinen und mittleren Unternehmen nützen. Mengenmäßige
Beschränkungen betreffen regionale Höchstgrenzen bei der Zulassung von
zahlreichen Gewerben – vom Taxiunternehmen bis zur Arztpraxis. Sie können dazu
dienen, ein Überangebot in einzelnen Gebieten zu verhindern und damit den am
Markt tätigen Dienstleistern überhaupt ein wirtschaftliches Überleben zu sichern.
Umgekehrt wirken sie dadurch gegebenenfalls einer Unterversorgung in
benachteiligten Gebieten entgegen. Sie sind ebenso mit einem einheitlichen
Binnenmarkt vereinbar wie Honorarordnungen, Mindest- oder Höchstpreise oder
Regelungen zur Mindestkapitalausstattung.
Die Richtlinie wird
zu einem Zeitpunkt vorgeschlagen, da die Erweiterung um 10 neue Mitgliedstaaten
auch das Funktionieren des Binnenmarktes auf eine Bewährungsprobe stellt.
Obwohl klar ist, dass mit der Erweiterung das wirtschaftliche und soziale
Gefälle in der EU drastisch zunimmt, schlägt man eine Strategie vor, die sich
im Grunde von dem Ziel einer Anhebung gemeinsamer Standards im
Dienstleistungsbereich verabschiedet. Mit einem solchen Projekt entfernt sich
die Europäische Union immer weiter von den legitimen Bedürfnissen ihrer
Einwohnerinnen und Einwohner.
2. Aushöhlung der
öffentlichen Daseinsvorsorge
Zweitens ist es für
die Tradition des europäischen Sozialmodells charakteristisch, dass zwischen
öffentlichen und privatwirtschaftlichen Gütern unterschieden wird, was sich
unter anderem in einer dualen Struktur von gemeinwohlorientierten
Dienstleistungen im öffentlichen Interesse (öffentliche Daseinsvorsorge:
öffentliche Dienste, Wohlfahrtspflege, gemeinnützigkeitsorientierte
Non-Profit-Dienstleistungen usw.) und eines privatwirtschaftlichen
Dienstleistungssektors widerspiegelt. Wo Leistungen der Daseinsvorsorge
marktförmig erbracht werden, sind zudem Auflagen an die Leistungserbringer
(z.B. Universaldienstverpflichtungen usw.) zur Gewährleistung von
Gemeinwohlinteressen üblich und zweckdienlich.
Die vorgeschlagene Richtlinie verwischt die
wohlbegründeten Grenzen und Unterschiede zwischen öffentlichen oder
gemeinwohlorientierten und privatwirtschaftlichen Dienstleistungen. Unter dem
Begriff Dienstleistung versteht die Richtlinie „alle selbstständigen
wirtschaftlichen Tätigkeiten (...), die in der Regel gegen Entgelt erbracht
werden, ohne dass die Dienstleistung von demjenigen bezahlt werden muss, dem
sie zugute kommt. Entscheidendes Merkmal für das "Entgelt" ist, dass
es eine wirtschaftliche Gegenleistung für die erbrachte Dienstleistung
darstellt, unabhängig davon, wie diese wirtschaftliche Gegenleistung finanziert
wird. Folglich ist eine Dienstleistung jegliche Leistung, mit der der Erbringer
am Wirtschaftsleben teilnimmt, ungeachtet seines rechtlichen Status, des
Tätigkeitszwecks und des betreffenden Tätigkeitsbereichs.“ Zwar behauptet der
Entwurf ebenfalls: „Nicht unter die Richtlinie fallen dagegen nichtmarktbestimmte
Tätigkeiten bzw. Tätigkeiten, bei denen das Merkmal der Entgeltlichkeit nicht
gegeben ist, wie bei den Tätigkeiten, die der Staat ohne wirtschaftliche
Gegenleistung in Erfüllung seiner sozialen, kulturellen, bildungspolitischen
und rechtlichen Verpflichtungen ausübt.“ Damit fielen also hoheitliche Aufgaben
des Staates (z.B. Militär, Polizei, Gefängnisse) nicht in den Geltungsbereich
der Richtlinie, ebenso wenig wie kostenloser öffentlicher Schulunterricht.
Unklar und unscharf bleibt jedoch die Abgrenzung zu
anderen öffentlich regulierten oder gemeinwohlorientierten Dienstleistungen.
Für die Inanspruchnahme zahlreicher öffentlicher Einrichtungen sind nun mal
Entgelte oder Gebühren zu entrichten, seien dies der öffentlich-rechtliche
Rundfunk, Verkehrsunternehmen, Bibliotheken, Freibäder, Ver- und Entsorger,
Theater, Museen, Kindergärten, Volkshochschulen, Fachhochschulen,
Universitäten, Krankenhäuser oder Friedhöfe. Gleiches gilt für die im
öffentlichen Auftrag tätigen Institutionen, von den Trägern der Freien
Wohlfahrtspflege bis zum Technischen Überwachungsverein. Da ein Großteil ihrer
Leistungen nach dem Entgeltkriterium als wirtschaftliche Tätigkeiten zu
betrachten sind und der „nichtmarktbestimmte“ Charakter einzelner ihrer
Tätigkeiten zunehmend von der Kommission in Zweifel gezogen wird, müssten sie
nach dem Dienstleistungsbegriff der Richtlinie auch in deren Geltungsbereich
fallen. Mit einiger Sicherheit ausgenommen wären nur jene Leistungen, die
gänzlich ohne Entgelt erbracht werden (z.B. kostenlose Angebote von Vereinen,
finanziert über Mitgliedsbeiträge oder Spenden). Die Kommission benennt zudem
eine Reihe von Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge (Gesundheitswesen,
Pflegedienste, Wasser- und Abwasserwirtschaft, Abfallwirtschaf usw.) als Beispiele,
die – teils mit spezifischen Regelungen – in den Geltungsbereich der Richtlinie
fallen sollen.
Diese in der Richtlinie vorgeschlagene Definition des
Dienstleistungsbegriffs und der Hinweis der Kommission, dass die dort
enthaltene Aufzählung erfasster Dienstleistungstätigkeiten „nicht abschließend“
sei, schaffen ein Einfallstor für die Einbeziehung immer weiterer
Tätigkeitsbereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge in den Geltungsbereich der
Richtlinie. Der Deutsche Bundesrat kritisiert zu Recht diesen sehr weit
gefassten Anwendungsbereich. Regelungen der Daseinsvorsorge - z.B.
Gesundheitswesen, Pflege und soziale Dienste, Bildung, Wasserwirtschaft usw. -
müssen grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten und ihrer zuständigen regionalen
und kommunalen Untergliederungen bleiben.
3. Fehlende
soziale Dimension des Dienstleistungsbinnenmarkts, Aushebelung der
Entsenderichtlinie
Die bislang
weitgehend abgeschlossene Schaffung eines europäischen Binnenmarkts für Güter,
die Auflösung von Staatsmonopolen und die Liberalisierung zahlreicher bislang
öffentlicher Dienstleistungen (Telekommunikation, Bahn, Post,
Energieversorgung) hat die Notwendigkeit einer EU-weiten sozialpolitischen
Regulierung auf hohem Niveau unterstrichen. Im Unterschied zum freien
Warenverkehr sind Dienstleistungen in viel stärkerem Maße personengebunden und
werden häufig auch von abhängig Beschäftigten erbracht. Dementsprechend müssen
auch die Bedingungen, unter denen diese arbeiten, den besonderen
sozialpolitischen Zielen aus Artikel 136 des EG-Vertrags entsprechen.
Der
Richtlinienentwurf enthält keine Ausführungen, wie die Schaffung eines
Dienstleistungsbinnenmarkts dazu beitragen kann, das erklärte Ziel der EU zu
erreichen, bis 2010 Vollbeschäftigung mit mehr und besseren Arbeitsplätzen zu schaffen.
Er schweigt sich dazu aus, wie der Dienstleistungsbinnenmarkt mit einer
Verbesserung der Qualität der Dienstleistungsbeschäftigung, der Förderung von
Qualifikation und lebenslangem Lernen, der Verbesserung der Lebens- und
Arbeitsbedingungen verbunden werden kann. Mit dem Herkunftslandprinzip geraten
vielmehr die nationale Arbeitsgesetzgebung und Tarifverträge über Löhne,
Arbeitsbedingungen sowie Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz unter
Druck. Er sieht auch nicht vor, dass die Beschäftigung- und Arbeitsbedingungen
in allen der Richtlinie unterliegenden Bereichen ausnahmslos dem Arbeitsortprinzip
unterliegen.
Zwar behauptet der
Entwurf, dass in Bezug auf die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der
Dienstleistungsfreiheit das Bestimmungslandsprinzip der geltenden
EU-Entsenderichtlinie bestehen bleibe. Die Entsenderichtlinie von 1996 sieht
vor, dass die „Kernarbeitsnormen“ des Bestimmungslandes gelten – etwa gleiches
Mindestentgelt, gleiche Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten etc. für
Arbeitnehmer portugiesischer Subunternehmer, die auf einer französischen
Baustelle arbeiten. Sie betrifft bisher im Wesentlichen den Bereich des
Bauhaupt- und Nebengewerbes. Nach dem "horizontalen" Ansatz der
Richtlinie wären jedoch eine Vielzahl weiterer Dienstleistungsbereiche
betroffen, was in erster Linie eine entsprechende Ausweitung des
Geltungsbereichs der Entsenderichtlinie erforderlich macht. Bereits jetzt ist
das europäische Entsenderecht überwiegend geduldiges Papier – in der Praxis
treten unzählige Rechtsverletzungen auf, die z.B. mangels EU-Regelungen zur
Vollstreckung von Bußgeldbescheiden in anderen Mitgliedstaaten, mangels
flächendeckender Kontrollen etc. nicht verfolgt und geahndet werden.
Der
Richtlinienentwurf nimmt dem Bestimmungsland durch besondere
Ausführungsbestimmungen zur Entsenderichtlinie nahezu alle effektiven
Kontrollmöglichkeiten. Für die Einhaltung des Entsenderechts soll nämlich das
Entsendeland selbst zuständig werden.
Gemäß dem
Herkunftslandprinzip werden Anforderungen des Bestimmungslandes an einen
grenzüberschreitend tätigen Dienstleistungserbringer untersagt, eine
Niederlassung zu unterhalten, eine Meldung abzugeben, eine Genehmigung zu
beantragen, eine Registrierung vorzunehmen, eine Anschrift zu nennen oder eine
vertretungsberechtigte Person zu stellen (Art. 16 Abs. 3a-d, g). Damit könnten
alle Unternehmen, die ihren formalen Sitz außerhalb des Ziellands haben, zu
weitgehend unkontrollierten Konditionen Dienstleistungen erbringen. Diese
Freiheit gilt sowohl für die Beschäftigung inländischer Arbeitskräfte als auch
für Entsendekräfte aus anderen EU-Ländern oder aus Drittstaaten (Artikel 24 und
25 „Entsendung von Arbeitnehmern“). Artikel 24 Absatz 1d verbietet dem
Zielland, Dienstleistern aus dem EU-Ausland die Vorhaltung oder Aufbewahrung
von Sozialversicherungsunterlagen vorzuschreiben. Die deutschen
Sozialversicherungsträger wundern sich zu recht, „wie dann die anzuwendenden
Rechtsvorschriften bzw. die Sozialversicherungspflicht (...) zweifelsfrei
festgestellt werden sollen“ (Deutsche Sozialversicherung 2004: 5). Da im
Tätigkeitsland niemand nach entsprechenden Dokumenten fragen darf und eine
effektive Kontrolle durch das Herkunftsland unrealistisch ist, könnten
Unternehmen über längere Zeit sozialversicherungsfrei arbeiten.
Die Aufdeckung und Ahndung
derartiger Verstöße erschwert sich ebenfalls, da die Betriebe nach dem
Richtlinienvorschlag keinen Vertreter im Zielland bestellen müssen. Diese
Regelung behindert auch die Eintreibung von Unfallversicherungsbeiträgen, „wenn
z.B. der ausländische Entsendearbeitgeber in Deutschland Ortskräfte bestellt,
die deutschem Sozialversicherungsrecht unterliegen und für die deshalb deutsche
Beiträge abgeführt werden müssen“ (Deutsche Sozialversicherung 2004: 4). Die
gleichen Umgehungsmöglichkeiten bei der Abführung von
Unfallversicherungsbeiträgen könnten selbstverständlich auch deutsche
Unternehmen nutzen, die in anderen EU-Staaten örtliche Arbeitskräfte einsetzen.
Insgesamt würden die Bestimmungen des Richtlinienentwurfs dafür sorgen, dass
die EU-Entsenderichtlinie und die nationalstaatlichen Entsendegesetze in der
Praxis völlig ausgehebelt würden.
Artikel 16 Absatz 3f.
verbietet zudem Vorschriften über die vertraglichen Beziehungen zwischen
Dienstleistungserbringer und -empfänger, die „eine selbständige Tätigkeit des
Dienstleistungserbringers“ beschränken. Damit wird sowohl „scheinselbständigen“
Beschäftigungsformen der Weg geebnet als auch dem Preisdumping bei der
Auftragsvergabe. So könnte ein deutsches Unternehmen eine Briefkasten-Firma im
EU-Ausland gründen, die hiesige IngenieurInnen oder ArchitektInnen unter
Umgehung der einschlägigen Honorarordnung beauftragt.
4. Geltungsbereich
der Richtlinie: Widerspruch zu bestehendem EU-Recht und laufenden Vorhaben
Der Geltungsbereich der Richtlinie erstreckt sich auf
sämtliche Dienstleistungen, die als „wirtschaftliche Tätigkeiten“ betrachtet
werden. Die Kommission zählt eine Reihe von Beispielen auf:
„Unternehmensberatung, Zertifizierungs- und Prüfungs- oder Wartungstätigkeiten,
die Unterhaltung und die Bewachung von Büroräumen, Werbung, Personalagenturen,
einschließlich Zeitarbeitsvermittlungen, die Dienste von Handelsvertretern,
Rechts- und Steuerberatung, Dienstleistungen des Immobilienwesens, wie die
Tätigkeit der Immobilienmakler, Dienstleistungen des Baugewerbes und der
Architekten, Handel, die Veranstaltung von Messen, die Vermietung von
Kraftfahrzeugen, Sicherheitsdienste, Dienstleistungen der
Fremdenverkehrsbranche, einschließlich der Dienste von Reisebüros und
Fremdenführern, audiovisuelle Dienste, Sportzentren und Freizeitparks,
Dienstleistungen im Freizeitbereich, Gesundheitsdienstleistungen und häusliche
Dienste, wie die Pflege älterer Menschen.“ Explizit ausgenommen wären laut
Artikel 2 lediglich einzelne Tätigkeiten auf dem Gebiet der
Finanzdienstleistungen, der elektronischen Kommunikation und dem Verkehr, da
diese bereits durch andere EU-Richtlinien erfasst werden. Ferner gilt der
Richtlinienvorschlag mit zwei Ausnahmen auch nicht für das Steuerwesen.
Eine Reihe von Dienstleistungsbereichen werden
bereits durch bestehende sektorale EU-Liberalisierungsrichtlinien abgedeckt,
z.B. die Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“ oder die Richtlinien zum
Energiebinnenmarkt, zu Telekommunikation, Postdiensten, E-Commerce und
Eisenbahn. Hierzu stellt der Richtlinienentwurf fest: „Fällt eine
Dienstleistungstätigkeit bereits unter einen oder mehrere
Gemeinschaftsrechtsakte, so sind diese zusammen mit dieser Richtlinie
anwendbar; die Anforderungen ergänzen sich gegenseitig“. Noch deutlicher heißt
es in der Begründung, dass „die Richtlinie und diese anderen Rechtsakte
kumulativ angewandt“ werden, „d.h. die jeweiligen Anforderungen addieren sich“.
Sie würde damit auch jenen Bereichen Verschärfungen erzwingen, die bereits dem
Binnenmarktprogramm unterworfen sind. Dies ist so nicht hinnehmbar.
Der Richtlinienentwurf steht in deutlichem
Widerspruch zu parallel laufenden EU-Gesetzgebungsvorhaben und Diskussionen und
zu bereits geltenden sektoralen EU-Richtlinien. Die Stimmigkeit und Kohärenz
des EU-Rechts würde bei seiner Annahme schwer beschädigt.
Die Kommission hat mit ihrem Grünbuch und
ihrem Weißbuch zur Daseinsvorsorge (Dienste im allgemeinen Interesse)
eine Debatte um Definition, präzise Abgrenzung ihrer Aufgaben und Finanzierungsregelungen
der öffentlichen Daseinsvorsorge und ihre Stellung im Rahmen des
EU-Wettbewerbsrechts eingeleitet. Die EU-Verfassung hat die Option eröffnet,
diese Fragen durch eine EU-Rahmenrichtlinie zu regeln. Die Aufgaben der
öffentlichen Daseinsvorsorge und der sozialen Sicherungssysteme unterscheiden
sich wesentlich von Dienstleistungen wie Autovermietung oder Fremdenverkehr. Es
ist daher völlig inakzeptabel, dass Leistungen der Daseinsvorsorge (z.B.
Wasserver- und Abwasserentsorgung, usw.) durch die geplante Richtlinie zum
Dienstleistungsbinnenmarkt parallel erfasst werden und auf ihre Liberalisierung
hingewirkt wird. Die diesen Bereich betreffenden Fragen müssen im Rahmen der
Debatte um die Daseinsvorsorge behandelt werden. Gesundheits- und Pflegedienste
sind Bestandteil der sozialen Sicherungssysteme und müssen entsprechend
systemkonform im Rahmen der bestehenden Richtlinie 1408/71 zur Koordinierung
der sozialen Sicherungssysteme geregelt werden. Es kann nicht angehen, dass
über die Hintertür einer Richtlinie zum Dienstleistungsbinnenmarkt ein Einstieg
in die EU-weite Liberalisierung des Gesundheitswesens und der Pflegedienste
angeschoben wird.
Ebenso befindet sich
derzeit eine EU-Richtlinie zur Zeit- und Leiharbeit in Verhandlung, die
unter anderem den Grundsatz der Gleichbehandlung mit den Beschäftigten des
Einsatzbetriebes vorsieht. Da die vorübergehende grenzüberschreitende
Leiharbeit lediglich insoweit von der EU-Entsenderichtlinie erfasst wird, als
sie den zwingenden Geltungsbereich des Bauhaupt- und Nebengewerbes betrifft,
besteht auch hier darüber hinaus gehender Regelungsbedarf im Hinblick auf alle
nicht erfassten Dienstleistungssektoren und die dauerhafte Entsendung. Es ist
vor diesem Hintergrund unverständlich und völlig inakzeptabel, dass Zeit- und
Leiharbeit (und damit wesentliche sozial-, arbeits- und
beschäftigungspolitische Fragen) durch eine Liberalisierungsrichtlinie zum
Dienstleistungsbinnenmarkt parallel geregelt werden sollen.
Ebenso verhält es
sich mit dem vorliegenden Entwurf einer EU-Richtlinie zur Anerkennung
beruflicher Qualifikationen, welcher eine EU-weit harmonisierte Anerkennung
von Abschlüssen anstrebt. Für die Qualität von Dienstleistungen ist es
wesentlich, welche beruflichen Qualifikationen ein Dienstleistungsanbieter
aufweist. Deshalb ist die Richtlinie zur Anerkennung beruflicher
Qualifikationen vorrangig zu behandeln, da sie weit mehr Regelungsbereiche
erfasst als die bloße grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung. Die
geplante Richtlinie zum Dienstleistungsbinnenmarkt darf einer solchen
umfassenden Regelung nicht vorgreifen.
Die
Dienstleistungsrichtlinie soll nach ihrer gegenwärtigen Fassung auch für die Rechtsberatung
und damit für die Tätigkeit der Rechtsanwälte gelten (vgl.
Erwägungsgrund 14). Dies ist vollkommen überflüssig, da die Tätigkeit der
Rechtsanwälte bereits durch mehrere EU-Richtlinien reglementiert wird
(Richtlinie 77/249/EWG zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien
Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte, Richtlinie 89/48/EWG über eine
allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens
dreijährige Berufsausbildung abschließen, Richtlinie 98/5/EG
Niederlassungsrichtlinie für Rechtsanwälte).
Eine Harmonisierung
der Bestimmungen über die Rechtsanwaltstätigkeit über das bereits erreichte Maß
hinaus ist nicht erforderlich und auch nicht sachgerecht. Denn die
Verschiedenheit der nationalen Rechtsordnungen bedingt schon aus Gründen des
Verbraucherschutzes notwendigerweise Grenzen für die freie Verkehrsfähigkeit
rechtsberatender Dienstleistungen. Zwar soll das Herkunftslandsprinzip auf
anwaltliche Tätigkeiten keine Anwendung finden. Dies wirft jedoch unnötige
Abgrenzungsfragen auf. So ist beispielsweise nicht ersichtlich, wie sich die
allgemeine Ausnahme der anwaltlichen Tätigkeit vom Herkunftslandprinzip
(Artikel 17-7) zu der nur vorübergehenden Ausnahme für "Tätigkeiten zur
gerichtlichen Beitreibung von Forderungen" verhält (Artikel 18 Abs. 1
Buchstabe c). Die gerichtliche Beitreibung von Forderungen gehört zu den
typischen Tätigkeiten der Rechtsanwälte.
Darüber hinaus ist es
auch nicht sinnvoll, z. B. Notare oder Steuerberater in den Geltungsbereich der
Richtlinie einzubeziehen. Neben Gerichten und Behörden sind nur Notare befugt,
öffentliche Urkunden mit für ein Gerichtsverfahren bindender Beweiskraft
aufzunehmen sowie Urkunden mit der Vollstreckungsklausel zu versehen und damit
die zwangsweise staatliche Durchsetzung der darin enthaltenen Ansprüche zu
bewirken. Dies ist unmittelbare Ausübung staatlicher Hoheitsbefugnisse und
keine freie marktwirtschaftliche Dienstleistung. Die besonderen Wirkungen
notarieller Rechtsakte sind überhaupt nur möglich, weil der Notar öffentliche
Gewalt ausübt, die ihm vom Staat übertragen worden ist. Grenzüberschreitende Steuerberatungsleistungen
sind nach dem Richtlinienvorschlag weder vom Anwendungsbereich des Artikel 2
ausgenommen noch fallen Sie unter die in Artikel 17 aufgeführten
Ausnahmeregelungen vom Herkunftslandprinzip. Demzufolge könnte ein
Dienstleistungserbringer aus einem anderen EU-Mitgliedstaat z. B. in
Deutschland steuerberatend tätig werden, ohne irgendeinen Nachweis über
ausreichende Kenntnisse im deutschen Steuerrecht erbracht zu haben und ohne der
deutschen Berufsaufsicht zu unterliegen. Dies bedeutet, dass der inländische
Leistungsempfänger (Verbraucher) weder einen Anhaltspunkt für die Qualität der
Leistung des ausländischen Leistungserbringers hat noch die Möglichkeit
besitzt, in dem Fall, in dem die Qualität nicht den Anforderungen genügt, im
Inland Sanktionen herbeizuführen.
Der
Richtlinienentwurf nimmt auch die audiovisuellen Dienstleistungen in
seinen Geltungsbereich auf, was insbesondere die Bereiche Rundfunk und
Filmförderung betreffen würde. Audiovisuelle Medien haben eine über den
wirtschaftlichen Aspekt hinausgehende weit reichende kulturelle Bedeutung.
Diesen kulturellen Aspekten muss die Europäische Gemeinschaft gemäß Artikel 151
Abs. 3 EGV Rechnung tragen. Zur Wahrung und Förderung der kulturellen Vielfalt
verbietet Artikel 151 Abs. 5 EGV deshalb Harmonisierungen in diesem Bereich.
Entsprechend hat die EU klar Position bezogen, den audiovisuellen Bereich aus
den WTO/GATS-Verhandlungen herauszuhalten. Umso unverständlicher ist es, dass
sie ihn nun in eine EU-Liberalisierungsrichtlinie einbeziehen will.
Die Abgrenzung zu
anderen europäischen Regelungen wird nur unzureichend vorgenommen und es fehlt
an eindeutigen Kollisionsnormen. Durch die in der Richtlinie vorgesehene
kumulative Anwendung anderer europäischer Rechtsakte kann es zu erheblichen Wertungswidersprüchen
kommen. Im Rundfunkbereich rechtfertigen unter anderem die Sicherung des
Medien- und Meinungspluralismus, die Frequenzknappheit, der Jugendschutz und
der Verbraucherschutz besondere Zulassungssysteme. Die Definition und
Ausgestaltung dieser Ziele liegen in der alleinigen Kompetenz der
Mitgliedstaaten und können nicht unter reinen Binnenmarktsgesichtspunkten auf
die Gemeinschaft verlagert werden.
Artikel 20 b des
Richtlinienentwurfs untersagt bei Anwendung auf die Filmförderung so genannte
Territorialisierungsklauseln, wonach die staatliche Förderung in einem
bestimmten Umfang an die Verwendung in einem bestimmten Mitgliedstaat gebunden
ist. Die filmwirtschaftlichen Mitteilung der Kommission vom 16. März 2004
(KOM(2004) 171 endg.) hat die Gültigkeit dieser Territorialisierungsklauseln
aber gerade bis zum 30. Juni 2007 verlängert. Aus Erwägungsgrund 34 des
Richtlinienentwurfs ergibt sich, dass die nationalen
Weiterverbreitungsvorschriften ("must-carry") für die
Kabeleinspeisung der Überprüfung nach Maßgabe der Richtlinie unterliegen
sollen. "Must-carry"-Vorschriften dienen z.B. dazu, dass
öffentlich-rechtliche Programme in den Kabelnetzen hinreichend vertreten sind.
Diese Vorschriften sind aber Gegenstand von Artikel 31 der EU-Universaldienstrichtlinie
und gehören nach Artikel 2 Abs. 2b des Richtlinienentwurfs zum
Dienstleistungsbinnenmarkt gerade nicht in dessen Geltungsbereich. Im
Unterschied zur Fernsehtätigkeit würde der Hörfunk erstmals durch diese
Richtlinie vom EU-Recht erfasst. Dies ist völlig inakzeptabel, da
grenzüberschreitende Aspekte beim Hörfunk nicht von Bedeutung sind.
5. Schwindende
Kontrolle unternehmerischer Tätigkeit und bedenkliche Schlupflöcher für
Wirtschaftskriminalität
Der
Richtlinienentwurf verbietet im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit in
Artikel 14 jedem Mitgliedstaat, dem Dienstleistungsunternehmen die Pflicht zur
Errichtung einer Hauptniederlassung aufzuerlegen, Mehrfachregistrierungen zu
untersagen, eine Mindestdauer der Tätigkeit auf dem eigenen Hoheitsgebiet zu
verlangen oder einen Mindestzeitraum für die Aufrechterhaltung der
Unternehmensregistrierung in seinem eigenen Register vorzuschreiben. Unklar
ist, ob die spezifischen Bestimmungen der geltenden Offenlegungsrichtlinie
(68/151/EG in der Fassung 2003/58/EG) und der Zweigniederlassungsrichtlinie
(89/666/EWG) weiterhin Bestand haben sollen. Die Schaffung eines europäischen
Registers ist ebenfalls nicht vorgesehen. Ein Unternehmen könnte sich demnach
einfach in dem Mitgliedstaat mit den niedrigsten rechtlichen Anforderungen und
Kontrollen registrieren lassen – Briefkastenfirma genügt – und danach in jedem
anderen Mitgliedstaat zu dessen „günstigen Heimatbedingungen“ tätig werden.
War für bisher für solche
Briefkasten-Firma-Konstruktionen die Steuerflucht das treibende Motiv, kommt
mit der Dienstleistungsrichtlinie ein ganzer Reigen weiterer Anreize hinzu, wie
die Umgehung von Umwelt-, Arbeits- und Gesundheitsstandards,
Qualifikationsanforderungen und Tarifverträgen. Schon jetzt warten diverse
EU-Staaten mit verschiedensten Unternehmenskonstruktionen vornehmlich für die
grenzüberschreitende "Steuervermeidung" auf, seien dies so genannte
Koordinierungszentren (Belgien, Luxemburg, Spanien, Deutschland),
Holdinggesellschaften (Niederlande, Luxemburg, Österreich, Dänemark) oder
diverse Finanzdienstleistungs-, Verwaltungs- und Logistikzentren (Irland,
Frankreich, Italien).
Mit der Verabschiedung der
Dienstleistungsrichtlinie wäre es vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis
spezifische Unternehmensvehikel für die Ausnutzung der unterschiedlichen
Regulierungsniveaus zwischen den EU-Mitgliedern entwickelt würden. Die nicht zu
unterbindende Mehrfachregistrierung würde es dann z. B. einem deutschen
Unternehmen ermöglichen, mit einer Sparte formal von den Niederlanden aus
EU-weit tätig zu werden (also auch innerhalb Deutschlands), mit einer anderen
aus Belgien – je nach dem, wo die Rahmenbedingungen für den jeweiligen
Geschäftszweig am "günstigsten" sind. Eine rasante
‚Ausflaggungswelle‘ von Dienstleistungsunternehmen in Länder mit den
niedrigsten rechtlichen Anforderungen und Kontrollen für ihre unternehmerische
Tätigkeit wäre dann zu erwarten.
Zur Gewährleistung des freien grenzüberschreitenden
Dienstleistungsverkehrs (Dienstleistungsfreiheit) dürfen
die Mitgliedstaaten zudem von Dienstleistern nicht verlangen, „die auf ihrem
Hoheitsgebiet für die Erbringung einer Dienstleistung geltenden Anforderungen
zu erfüllen“ (Art. 16 Abs. 3e). Mit diesen Anforderungen sind sämtliche
Regelungen gemeint, die „das Verhalten der Dienstleistungserbringer, die
Qualität oder den Inhalt der Dienstleistung, die Werbung, die Verträge und die
Haftung der Dienstleistungserbringer“ betreffen (Art. 16 Abs. 1). Die Standards
des Tätigkeitslands bestünden folglich nur noch für inländische Unternehmen,
nicht mehr für all jene, die ihren Sitz in anderen EU-Staaten haben oder
dorthin verlagern, um strengere inländische Auflagen zu umgehen. Für
Kontrollaufgaben wird das Herkunftsland zuständig: „Der Herkunftsmitgliedstaat
ist dafür verantwortlich, den Dienstleistungserbringer und die von ihm
erbrachten Dienstleistungen zu kontrollieren, auch wenn er diese in einem
anderen Mitgliedstaat erbringt“ (Art. 16 Abs. 2).
Welches Interesse sollte
allerdings ein Herkunftsland haben, die Auslandsgeschäfte der bei ihm
beheimateten Unternehmen zu kontrollieren? Warum sollte es ihnen
Geschäftsmöglichkeiten verbauen, die sich positiv in seiner
Außenwirtschaftsbilanz niederschlagen? Verfügen die Behörden überhaupt über die
finanziellen und personellen Ressourcen, um derartige Zusatzaufgaben zu
übernehmen? Und nicht zuletzt: Wie kann es zu einer effektiven
Wirtschaftsaufsicht kommen, wenn das Herkunftsland keinerlei Befugnisse hat,
vor Ort im Zielland Kontrollen durchzuführen? Auf diese offensichtlichsten
Einwände gegen das Herkunftslandprinzip liefert die Dienstleistungsrichtlinie
keinerlei Antworten. Stattdessen begnügt sie sich mit blumigen Maßnahmen
gegenseitiger Unterstützung und der Verwaltungszusammenarbeit (Art. 35-37).
Dabei wird es für das Bestimmungsland sehr schwierig,
selbst Verstöße von Dienstleistungserbringern aus dem EU-Ausland gegen die
öffentliche Ordnung oder gegen die öffentliche Gesundheit zu verfolgen. Nach
Artikel 19 ist ihm dies nur im Einzelfall gestattet und unter hohen Auflagen:
seine Sanktionsmaßnahme muss „verhältnismäßig“ sein; sie darf nur dann
erfolgen, wenn das Herkunftsland nachweislich nicht oder unzureichend reagiert
hat und sie muss für den Dienstleistungserbringer „einen größeren
Schutz“ erbringen als diejenigen, die „der Herkunftsmitgliedstaat aufgrund
seiner innerstaatlichen Vorschriften ergreifen würde.“ Die Ahndung von
Verstößen gegen die öffentliche Ordnung und öffentliche Gesundheit wird somit
erheblich erschwert.
Ebenso ist das
Kontrollverfahren nach Artikel 35 und 36 des Entwurfs gegenüber Dienstleistern,
die sich rechtswidrig verhalten haben oder gar Gesundheit und Sicherheit von
Personen gefährden, äußerst kompliziert und zeitaufwändig. Die zuständigen
Behörden des Bestimmungslands, des Herkunftslands und die Kommission müssen
zunächst informiert werden. Danach soll das Herkunftsland in Aktion treten und
über seine Untersuchungsergebnisse und Maßnahmen berichten. Treten
Schwierigkeiten mit einer Anfrage auf, „informieren die Mitgliedstaaten
umgehend den anfragenden Mitgliedstaat, um eine gemeinsame Lösung zu finden.“.
Wirtschafts- und anderen Kriminellen verschafft dieses aufwändige und
zeitraubende Verfahren erhebliche Vorteile.
Artikel 25 untersagt
dem Bestimmungsland, von fremdregistrierten Dienstleistungsunternehmen für
Beschäftigte aus Nicht-EU-Staaten die Vorlage von Aufenthalts- und
Arbeitserlaubnispapieren zu verlangen. Die Kontrolle, ob diese Beschäftigten
aus Drittstaaten eine gültige Aufenthaltserlaubnis haben und legal beschäftigt
sind, obliegt dem Herkunftsland. Wie diese Kontrolle durch das Herkunftsland
zeitnah und effektiv vonstatten gehen soll, bleibt unklar. Damit wird die
Ausbeutung rechtloser, illegaler Arbeitskräfte deutlich erleichtert.
6. Widerspruch zu den Bestimmungen
des EG-Vertrags
Die weitreichenden Vorschläge des Richtlinienentwurfs
werden durch die Bestimmungen des geltenden EG-Vertrags nicht gedeckt. Artikel
43 EGV stellt lediglich fest, dass die Niederlassungsfreiheit innerhalb der EU
die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung
und Leitung von Unternehmen umfasst, und zwar „nach den Bestimmungen des
Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen“. Richtlinien zur Verwirklichung
der Niederlassungsfreiheit werden vom Rat „für eine bestimmte Tätigkeit“
erlassen. Auch im Hinblick auf Dienstleistungen (freier
Dienstleistungsverkehr) regelt Artikel 52 EGV den Erlass von Richtlinien „zur
Liberalisierung einer bestimmten Dienstleistung“, also klar abgegrenzte bereichsspezifische
Regelungen. Der Richtlinienentwurf der Kommission ist hingegen „horizontal“,
also fach-, sparten- und berufsfeldübergreifend auf eine Vielzahl von
Dienstleistungstätigkeiten angelegt, und nicht auf „bestimmte Tätigkeiten“ oder
„bestimmte Dienstleistungen“ wie Handel, IT-Dienstleistungen, Fremdenverkehr
usw.
Ferner sollen die Mitgliedstaaten zur Verwirklichung
der Niederlassungsfreiheit bestimmte von der Kommission als unzulässig
deklarierte Auflagen an die Dienstleistungserbringer vollständig beseitigen,
weitere Auflagen auf ihre Verzichtbarkeit nach den Grundsätzen der
Diskriminierungsfreiheit, der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit hin
überprüfen und gegenseitig evaluieren sowie neu geplante Rechts- und
Verwaltungsvorschriften von der Kommission vor ihrem Erlass genehmigen zu
lassen. Auch dies geht weit über die Bestimmungen des gegenwärtigen EG-Vertrags
zum Niederlassungsrecht hinaus, welche nur eine Gleichbehandlung von
Niederlassungswilligen aus anderen EU-Mitgliedstaaten („wie eigene
Staatsangehörige“) verlangen.
Nach Artikel 50 EGV (freier Dienstleistungsverkehr)
„kann der Leistende zwecks Erbringung seiner Leistungen seine Tätigkeit
vorübergehend in dem Staat ausüben, in dem die Leistung erbracht wird, und zwar
unter den Voraussetzungen, welche dieser Staat für seine eigenen Angehörigen
vorschreibt.“ Die Verankerung des Herkunftslandprinzips für den freien
Dienstleistungsverkehr in der vorgeschlagenen Richtlinie widerspricht diametral
diesen klaren Aussagen des EG-Vertrags, denn Dienstleister aus anderen
EU-Mitgliedstaaten würden dann ja nicht mehr unter denselben Voraussetzungen
operieren müssen wie einheimische.
Artikel 2 Abs. 2
Buchstabe c des Richtlinienvorschlags beinhaltet, dass die
Dienstleistungsrahmenrichtlinie subsidiär auch auf Verkehrsdienstleistungen
angewandt werden soll. Auch dies widerspricht den Bestimmung des EG-Vertrags:
Während Artikel 50 EGV Dienstleistungen allgemein regelt, sieht Artikel 51 EGV
Sonderbestimmungen für das Gebiet des Verkehrs vor. Verkehrsdienstleistungen
unterliegen wegen ihrer internationalen Einbindung spezifischen Anforderungen.
Die Anwendung der vorgeschlagenen Richtlinie auf Verkehrsdienstleistungen wird
dieser im primären Gemeinschaftsrecht vorgegebenen Sonderrolle nicht gerecht.
Dies gilt insbesondere für Richtlinienvorschläge nach dem Verkehrstitel des
EG-Vertrags, die nach Ablehnung durch das Europäische Parlament oder den Rat
gescheitert sind, wie unlängst beispielsweise der Richtlinienvorschlag über den
Marktzugang für Hafendienste (Port Package).
Die hier zitierten einschlägigen Artikel des
geltenden EG-Vertrags finden sich übrigens - in veränderter Nummerierung, aber
gleichem Wortlaut - in der von der Regierungskonferenz 2004 verabschiedeten
EU-Verfassung, deren Ratifizierung noch aussteht.
7. Unzureichende
Regelungen zu Qualitätsstandards
Obwohl die Kommission eine
hohe Qualität der Dienstleistungen anstrebt, verzichtet sie darauf, europaweit
einheitliche und verbindliche Regelungen zu Qualitätsstandards vorzuschlagen.
Sie will vielmehr die Anbieter dazu ermutigen, „freiwillig die Qualität der
Dienstleistungen zu sichern“ (Art. 31). Im Angebot hat sie Zertifizierungen,
Gütesiegel, Selbstverpflichtungen sowie freiwillige Standards und
Verhaltenskodizes auf Gemeinschaftsebene (Art. 31 und Art. 39). Letztere sind
sicher sinnvoll, müssen aber auf einem Fundament verbindlicher gesetzlicher
Regelungen zu Qualitätsanforderungen aufbauen.